Bringt ihn in die Schwarzwaldklinik (1984)

Der Sommer 1984 neigte sich dem Ende zu. Am Horizont sahen wir die Schule heraufziehen und die Leute um uns herum kehrten aus dem Sommerurlaub zurück. Die Straße war wieder lebendiger und wir mussten beim SoftballSpiel wieder öfter für durchfahrende Autos zur Seite hüpfen. Die Siedlung hatte leichtes Gefälle und so war es für uns ein großer Spaß mit dem Fahrrad die Straße herunter zu brausen. Aber jetzt, da der Verkehr wieder zu nahm, mussten wir uns auf die Einfahrten unserer Elternhäuser beschränken, um zu spielen. 

Ich war noch nie in meinem Leben sportlich, eher völlig ungeeignet, um irgendwelchen Bewegungsspielen nachzugehen. Sogar in der Schule wurde das erkannt und so musste ich eine Zeit lang früh morgens vor Schulbeginn das „Sonderturnen“ von Frau Fluss besuchen. Da wurde, während meine Freunde noch schliefen, auf umgedrehten Bänken balanciert, auf die dicken Matten gesprungen, auf Trampolins gehüpft und nicht zuletzt das Fangen und Werfen geübt. Mit Fangen und Werfen hatte ich nie Probleme, aber das Gleichgewicht zu halten, das schaff ich zum Amüsement mancher Anwesender heute noch nicht. Ich war also der klassische Fall für die „Frühsport-Sonderturn-Gruppe“ der Grundschule St. Valentin Kübelberg. Heute würden sich Eltern über diesen Ausdruck empören, doch damals war das guter pädagogisch wertvoller Schuljargon- auch das haben wir überlebt. Ich kann leider nicht mehr sagen, wer noch dabei war- wenn sich jemand erkennt, darf er mir gerne schreiben, in den Kommentaren- oder privat 😉

Nundenn, wir spielten also in unserer Einfahrt. Chrissi, Marcel, Blendax und Grinsi, Alex und ich. Im Haus schräg gegenüber wohnte Micha. Er war ein total netter Junge, ein gutes Stück älter als wir, damals für uns schon fast erwachsen. Er beobachtete uns, wie wir versuchten auf dem betonierten Teil des Hofes mit unseren Rollschuhen vorwärts zu kommen. Es blieb ihm nicht verborgen, dass ich überhaupt nicht bremsen konnte. Es wollte mir nicht gelingen, den roten Stopper meiner Unterschnall—„mitwachs“-Rollschuhe zum Bremsen auf den Boden zu bekommen. Ständig knallte ich an das Garagentor, und das rummste jedes Mal so laut, dass es wahrscheinlich die ganze Siedlung hören konnte. Der Hund unserer Nachbarn bellte jedes Mal, wenn es schepperte. Der arme Pascha. 

Micha stand also da und schaute sich das Treiben an. Wir besaßen nicht alle Rollschuhe und so gab ich auch meine im Laufe des Nachmittags immer wieder weiter. Da gab es nur ein Problem: Ich hatte damals schon Schuhgröße 38 und die anderen etwa 3 Größen kleiner. Wir konnten die Schrauben, die zum richtigen Einstellen der Rollschuhe hätten gelöst werden müssen, nicht aufdrehen und so blieben meine Rollschuhe immer in Größe 38- egal wer gerade damit fuhr. „Pass auf Marcel!“, Sabine, die älteste der Mikas, versuchte den Überblick zu behalten und stand in der Mitte unseres Hofes und regelte den RollschuhVerkehr. „Kannst du mir mit den Kleinen helfen?“ rief Sabine Micha zu. „Ja, klar! Ich komme!“ Er wechselte die Straßenseite zu uns herüber. Nun war Micha schon 16 oder 17 und das was wir da vollführten weckte in ihm großes Mitleid. Als Großer und als geübter Rollschuhfahrer wollte er uns das „richtige“ Rollschuhfahren beibringen. Stolz zitierte er uns an den Anfang unserer Einfahrt, die damals zu Dreiviertel mit rotem Schotter und nur im unteren Bereich mit Betonguss befestigt war. „Jeder von euch lernt jetzt richtig Rollschuhfahren!“ bekräftigte Micha seine Absicht. „Ihr fährt nacheinander die Einfahrt runter und ich fang euch unten auf! Nadine, du lernst die Sache mit dem Bremsen auch noch!“ Grinsi und Blendax machten den Anfang. Sie versuchten auf dem Schotter mit ihren Rollschuhen Griff zu bekommen und rammten die Rollschuhe wie Spikes in den roten Schotter. Nacheinander fuhren sie unter dem Applaus der anderen in Michas Arme. Chrissi und der kleine Marcel schafften es auch- zu erst Chrissi, dann Marcel- mit meinen übergroßen Anschnallrollschuhen ins sichere Ziel- Micha fing sie auf. Und wieder jubelten alle. Dann kam ich. Eher langsam schreitend gelangte ich kniezitternd unten an und schaffte es aus der fast nicht vorhandenen Geschwindigkeit- fast aus dem Stand- zum ersten Mal mit dem Stopper zu bremsen. Jubel allerorts in unserem Hof- ich hatte es geschafft.

Oben am Anfang der Einfahrt stand noch Alex. Er zog sich die Rollschuhe über und trat an als hätte er in seinem Leben noch nichts anderes gemacht. Der Staub wirbelte auf und hinter ihm war die imaginäre Wolke des Roadrunners aus den LooneyTunes zu sehen. Wir feuerten ihn an und er gab alles. „Kooooom iiiiichh faaaaang diiiiich aaauuuuf! KKKKeiiine AAAngst!“ Micha war fest entschlossen und bewegte sich wie ein Tormann hin und her, um meinen Cousin zu fangen. Nahe an unserem Haus hielt in diesem Moment der grüne VW Bully des Eismännchens und hupte. Alex erschrak sich, strauchelte, er verlor das Gleichgewicht, die viel zu großen Rollschuhe entzogen sich seiner Kontrolle. Wir sahen ihn wie in Zeitlupe über den Beton beschleunigen und dann mit einem entsetzlichen Krachen stürzen. Ein lauter Schrei drang an unsere Ohren. Da lag er nun wie Eddy the Eagle nach einem missglückten Ski-Sprung Jahre später bei Olympia in Calgary. Micha stand immer noch mit offenen Armen da und war fassungslos, dass er Alex nicht hatte retten können. Aber wir hatten trotzdem Glück, dass er da war. „Alex! Alles ok?“ Grinsi beugte sich über Alex und wir knieten um  ihn herum. „Kannst du aufstehen?“ fragte Chrissi „Mach bloß keinen Mist! Du kannst doch weiter spielen, oder?“ Aber Alex konnte unseren Fragen nicht antworten- zu groß war der Schmerz „Mein Bein! Mein Bein!“ „Komm, Micha, pack mit an- wir tragen Alex hoch ins Haus!“ rief mein Vater, der Alex’ Schrei drinnen gehört hatte und zu uns in den Hof eilte. Mit Papa zusammen brachte Micha den guten Alex in unser Wohnzimmer auf die braune Cordcouch. Der weinte und weinte, weil er solche Schmerzen im Bein hatte. Schnell wurde das gekühlt und Marie, seine Mama angerufen. Ich schaltete ihm unseren Fernseher an, um ihn abzulenken- mein Vater nahm einen der eingefrorenen Osterhasen aus dem Gefrierschrank und versuchte den armen Verletzten zu beruhigen. Ich weiß bis heute nicht, warum er die Osterhasen und Nikoläuse damals einfror, aber für solche Augenblicke war es gut eine Notration Schokolade im Haus zu haben- nicht nur für Alex- wir alle hatten Nervennahrung notwendig. Im Hintergrund lief ausgerechnet die Schwarzwaldklinik. Und während wir Alex und uns selbst gegenseitig mit der eiskalten Schokolade und guten Worten zu beruhigen suchten, behandelten Prof. Dr. Brinkmann und sein Sohn Udo ihre Patienten im bekanntesten Krankenhaus der 80er.

Ein paar Minuten dauerte es, da fuhr Alex’ Mama schon mit ihrem krachneuen weißen Peugeot 205 vor. Der Unglücksrabe wurde zwar nicht in die Schwarzwaldklinik, aber doch ins Krankenhaus nach Homburg verfrachtet. Unser Nachmittag war gelaufen. Am nächsten Tag saß dann mein Cousin mit einem gebrochenem Bein und einem Gips -auf den wir alle neidisch waren- bei Oma in der Kneipe. Dort lag Jahre zuvor mein Großvater im Gipsbett, nachdem er sich Silvester 1980 im angeschwippsten Zustand bei eisglatter Herzogstraße auf ein Duell auf Rollschuhen eingelassen hatte. Ein Gast hatte ihn in der Kneipe herausgefordert und da er als „de Hammer“ keine Herausforderung oder Wette ablehnte, fuhr er todesmutig unter den anfeuernden Rufen der anderen Kneipenbesuchern mit Kinderrollschuhen die Herzogstraße hinunter. Es endete- wie es enden musste: im Gipsbett. Böse Zungen würden behaupten, dass Rollschuhe also keine adäquaten Sportgeräte für unsere Familie sind. Alex hatte das auch begriffen und stieg wenig später auf sein neues Skateboard um. Schluss war also mit dem Rollschuhfahren für diesen Sommer- für mich wesentlich angenehmere „Sitz-Sportarten“ wie Quartettspiel standen mit Alex jetzt auf dem Plan. Die Sommerferien schienen gelaufen, aber ob das wirklich so war, lest ihr nächste Woche hier auf http://www.diesiedlung.com.

Veröffentlicht von Nadine Becker

Seit vielen Jahren lebe ich in der deutsch-französischen Grenzregion, in der wunderbaren Kleinstadt Sarreguemines. Mein Leben ist franco-allemand.

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