Meine Kindheit spielte sich in vielen Räumen ab- vor allem in einem: dem Gasthaus meiner Großmutter mit dem großen Stammtisch und all den illustren Gästen, die mehr oder weniger im Rausch mit Großmutter über die Welt philosophierten. Die Gaststätte war das Herzstück der Siedlung, fast wie eine kleine Burg, in der sich alle trafen und neue Pläne für die Zukunft besprachen oder über die Vergangenheit lamentierten. Sie war für mich ein Ort der Geschichten, düstere und heitere- ernste und lustige wurden erzählt. Dabei durfte Bier und Schnaps nicht fehlen. Sie führten dazu, dass die Zungen lose und das Verhalten der Gäste in der alten Kneipe mir oft sonderbar schienen.
Juli 1984
Aus den großen Fenstern des Gasthauses, die der Straße zugewandt waren, konnte man durch die Lücke zwischen den gegenüberliegenden Häusern bis zum Horizont blicken. Dorthin, wo die Straßen endeten und der große „AmiZaun“ eine schier unüberwindbare Grenze bildete. An diesen seltsamen Ort trieb es mich mit meinen Freunden oft. Wir stiegen auf unsere Räder und strampelten -eine für kurze Beine Weltreise- hin zum mysteriösen Zaun, der den Bruchwald von uns trennte. Der Zaun war Teil des Army- Munitionsdepot Miesau- eine Welt, die uns Kindern völlig fern und doch so nah war. Miesau stand für uns als Kinder für das beste Schwimmbad der Umgebung. Schwimmbad? Oma erzählte immer wieder die Geschichten vom alten Schönenberger Schwimmbad im Wald, dahinten am Amizaun. Ein Schwimmbad, das ich nur aus ihren Erzählungen kannte. Ihr müsst wissen, ich war eine Schissbux, wenn es um Abenteuer ging. Doch das Schwimmbad regte meine kindliche Fantasie an wie kaum etwas anderes. Vielleicht könnte man da noch schwimmen? Die alten Leute in der Wirtschaft sprachen oft davon und ich wurde immer neugieriger.
Als ich meinen Freunden vom alten Schwimmbad im Wald erzählte, waren alle ganz Ohr. Blendax lächelte breit und mir war klar, dass auch sein Bruder Grinsi mitziehen würde, wenn Blendax begeistert war. Chrissi, die Mutigste aus unserem Haufen hatte zwar kein Fahrrad, aber auf dem Gepäckträger meines orangenen Klapprades war noch Platz. Ich passte schon mit 8 nicht mehr auf ein Kinderrad und jetzt zeigte sich, dass es wirklich cool war, groß zu sein.
Blendax schlug vor, die Suche nach dem Schwimmbad am zweiten Tag der großen Ferien zu starten. Er rechnete damit, dass er am ersten Tag noch mit Hausarrest zuhause sitzen musste- sein Zeugnis würde sehr schlecht sein. Er würde sich erst am zweiten Tag wegstehlen können, denn da arbeitete seine Mutter wieder. „Aber das muss unter uns bleiben!“ Blendax und Grinsi streckten ihre Hände nach vorne und legten sie übereinander, dann kam Chrissis Hand dazu und meine obendrauf- wir wollten es niemandem erzählen, wir schworen es. Chrissi flüsterte zum Abschluss: „Versprochen ist Versprochen und wird nicht gebrochen!“ Es war schon spät an diesem Abend vor dem letzten Schultag, also gingen wir nachhause, Blendax mit mehr Befürchtungen als wir anderen.
Mein Zeugnis war ganz ordentlich. Bei Blendax war das anders. Grinsi stellte ihn immer wieder mit seinen Noten in den Schatten und das führte dazu, dass Blendax nur das Notwendigste für die Schule machen wollte und so unter seinen Möglichkeiten blieb. Damals konnte ich das total verstehen, heute lachen wir alle darüber. Wenn ich zuhause in Kübelberg bin, höre ich manchmal Blendax Mutter immer noch schimpfen. Dann erinnere ich mich wieder an die Sache mit dem Schwimmbad.
Wir trafen uns also am Morgen des zweiten Ferientags, als der Nebel noch über der Moorniederung hinter unserem Haus lag. Monika, die in der Wohnung über uns wohnte, war schon längst zur Frühschicht und hatte mich durch das Knarzen der alten Holztreppe aufgeweckt. Ohne, dass es jemand merkte, stahl ich mich mit meinem orangen Fahrrad aus dem Haus. Ich setzte mich auf die Treppe vor unserer Haustür. Wie vereinbart standen nur wenige Minuten später Chrissi, Grinsi und Blendax vor mir. „Wir müssen uns beeilen, meine Mutter geht gleich zur Bäckerei!“ forderte Chrissi uns zur Eile auf. Wir fuhren den Hubbelweg neben Grinsis und Blendax Haus hinunter zum alten Bahndamm. Dort fuhren nur noch Güterzüge, der Personennahverkehr war 1984 schon eingestellt. Am Bahndamm entlang führte ein Trampelpfad, vorbei an den drei Tannen, an denen wir uns oft herumtrieben. Der Feldweg mündete in eine geteerte Militärstraße, die direkt Richtung Amizaun führte. Die Sonne hatte den Nebel fast weggeschmolzen und ich hatte Mühe mit Chrissi auf dem Gepäckträger die Balance zu halten. Die Schlaglöcher waren tief und Chrissi hüpfte mehr auf dem Gepäckträger herum als dass sie saß. Grinsi war wie immer der Schnellste unserer Truppe. Er fuhr wie der Wind an mir vorbei drehte und fuhr wieder auf Blendax und mich zu. Ich hatte Mühe ihm auszuweichen, er war eben ein Draufgänger. Blendax lachte nur. Chrissi schlug vor am kleinen Waldstück des Großcousins meiner Großmutter kurz anzuhalten. Nur 300 m vor dem Tor zum mysteriösen Amizaun. Das Waldstück war eingezäunt, in ihm war ein kleiner Teich, den ich einmal mit meiner Großmutter besucht hatte. Ein wunderschöner Platz. Wir setzten uns an den Wegesrand und Blendax zog ein Butterbrot aus der Tasche. Ich kann mich nicht erinnern, dass er einmal ohne ein Butterbrot aus dem Haus gegangen ist. Wenn man ihn fragte, warum er immer ein Butterbrot dabei hatte, bekam man nur kurz zur Antwort, „Man kann ja nie wissen, was passiert. Und mit einem Butterbrot, hat mein Opa immer gesagt, ist man immer gut gerüstet.“ Blendax Opa war schon lange tot, aber Blendax erinnerte sich an jede einzelne Geschichte vor dem Kamin in dem alten Haus am Rande des Dorfes. Vor allem die Butterbrotgeschichte war eine sehr wichtige für ihn. Nur mit einem Butterbrot war sein Opa durch den Krieg gekommen und mit einem Butterbrot in der Hand hatte er Grinsis und Blendax Oma gefragt, ob sie ihn heiraten wollte. Und nur wegen des Butterbrots hatte sie ja gesagt. Und so betonte Blendax immer wieder, dass es ihn ohne das Butterbrot nie gegeben hätte und er deswegen auch immer eines in seiner Tasche habe. An diesem Tag biss ich ab und fand, dass das Butterbrot eine geniale Idee war.
Ich hatte in meinem roten Rucksack zwei Flaschen Sprudel und eine Dose Orangenlimonade. Chrissi war schon früh in Frau Langs Tante EmmaLaden und hatte eine Tüte saurer Pommes gekauft. Wir waren also mit allem versorgt. „Komm schon, Nadine! Wir müssen weiter. Wer weiß, wie weit es noch bis zum verwunschenen Schwimmbad ist!“ Ich blinzelte in die Sonne und vertrieb die Mücken. Zuhause hatte ich mir eine Karte unserer Gemeinde eingesteckt und mir eventuelle Lagepunkte des Schwimmbades grün markiert. Wir mussten weiter zum AmiZaun. „Alles klar! Auf geht’s!“ Ich stieg wieder auf mein Fahrrad und wir fuhren weiter. Die Straße machte einen leichten Bogen nach rechts, um dann am neuen Wasserhäuschen, auf eine andere Panzerstraße zu treffen. Dort, wo die Straßen sich vereinten stand eine Bank, dort hatte ich schon oft gesessen. Wir hielten kurz an- vor uns das verriegelte Tor des ArmyDepots. Massiv und schwer aus glänzendem Metall versperrte es uns die Weiterfahrt. Chrissi behauptete: „Da machen die Kinderversuche! Die Amis machen da grausame Sachen!“ Blendax lachte „Wenn die dich kidnappen, dann bringen die dich morgen wieder zu deinen Eltern! Du redest dummes Zeug!“ „Oma hat erzählt, dass die Amis da Waffen lagern. Die Leute in der Kneipe sagen immer: „Wenn da was hochgeht, dann sind wir alle weg!“ „Was soll denn da hochgehen, siehst du da Bomben liegen?“ „Jungs und Mädels, wir haben einen Auftrag!“ Schallte es von hinten. Chrissis kleiner Bruder war uns nachgeradelt. „Ihr habt wohl gedacht, ich bekomm’s nicht mit, wenn ihr wegfahrt! Ich hab auch ein Handtuch zum Baden dabei!“ Wir lachten und es war klar, dass der Kleine mitkommen würde. Ich zog meine Karte heraus und zeigte den anderen den ersten grünen Punkt. „Ich bin Erster!“ rief Grinsi und bog auf einen kleinen Trampelpfad, der nach links abzweigte. Wir folgten ihm ins Dickicht. Wir versuchten an Grinsi dran zu bleiben, aber der raste wie ein Irrer durch das Gestrüpp. Die kleinen Ästchen schlugen uns ins Gesicht, so verwachsen war der Weg. Wir erreichten eine Lichtung. „Grinsi, warte auf uns, der Kleine kommt mit deinem Tempo nicht mit!“- „Der hört nicht auf dich!“ rief mir Blendax zu. So ein Mist. Chrissis Hintern tat von den dem ganzen Gehopse auf dem Gepäckträger richtig weh- ich hörte sie laut „Au, au, au!“ rufen. Doch Grinsi fuhr immer weiter und schneller, bis ihm eine große Baumwurzel im Weg war. Er sah sie zu spät, konnte nicht mehr ausweichen und flog im hohen Bogen vom Fahrrad. Grinsi! Was ist los? Wir riefen und riefen, doch Grinsi bewegte sich nicht. Das Fahrrad lag noch an der Wurzel. „Der ist tot!“ rief Chrissi. „Halt den Mund !“schrie Blendax. Wir rasten so schnell wir konnten. Alles flog an uns vorbei, die Äste, die bis dahin schon Schrammen an unseren unbekleideten Beinen hinterließen genauso wie der Amizaun rechts von uns. Grinsi lag mit dem Gesicht nach unten auf der Lichtung. Blendax schrie verzweifelt nach seinem Bruder, der aus einer Furche am Kopf blutete. Wir versuchten ihn um zu drehen, und schüttelten ihn. Keine Reaktion. „Ruf einen Notarzt! Fahr nach Hause, Chrissi, nimm mein Fahrrad!“ schrie ich Chrissi an. „Musst dich nicht beeilen! Ihr Angsthasen- mir passiert doch nix.!“ Grinsi lachte und wir standen völlig erschrocken um ihn herum. „Du Blödmann! Du hast uns zu Tode erschreckt! Wart nur, ich geb dir gleich eine!“ Völlig außer Atem ließen wir uns ins Gras fallen. Alle waren froh, dass Grinsi bis auf ein paar Schrammen heile war.
Ich schaute in den Himmel und malte mir für ’ne Sekunde aus, was gewesen wäre, wenn Grinsi den Sturz nicht so gut überstanden hätte. Ich weiß nicht mehr wie lange wir im Gras lagen, aber jeder brauchte eine richtige Pause. Ich drehte mich zu Blendax um „Weinst du?“ „Nein, wir sind Jungs, wir weinen nie!“ Er weinte, weil er froh war, dass nix passiert war. Ich sah hinter ihm in den Wald. Das Gehölz war zwar dicht, aber die Strahlen der Mittagssonne erhellten die Szene. „Leute, seht ihr das?“ „Was denn?“ „Da hinten im Wald! Moment, wo ist meine Karte?“ Ich zog die Karte heraus und sah, dass wir nahe an einer grün eingezeichneten Markierung waren. „Da ist es!“ „Was? Was meinst du?“ „Das Schwimmbad!!“ Der kleine Marcel schaute ungläubig in den Wald . Wir packten schnell unsere Sachen zusammen und liefen in das angrenzende Wäldchen. Ein Stück am Hochsitz vorbei und dann links. Das soll es sein? Chrissis Bruder war zuerst ganz enttäuscht- ein bisschen waren wir es alle. Da war kein Schwimmbecken mehr, da war keine Liegewiese, wie wir es aus Miesau gewohnt waren. Wir fanden nur drei Startblöcke, die verloren aus dem Unterholz des Waldes ragten. Die Stätte war zwar kein Schwimmbad mehr, aber wir hatten einen richtigen Abenteuerspielplatz gefunden. Blendax, Marcel und Grinsi stiegen auf die Startblöcke und ich war der Trainer. Ich pfiff durch meine imaginäre Pfeife und die Jungs schwammen in unserer aller Phantasie durch das Schwimmbad. Chrissi klatschte sie ab, wenn sie die FantasieBahnen wechselten. Alle waren ausgelassen und fröhlich. Irgendwann setzte die Dämmerung ein und wir merkten, dass wir die Zeit vergessen hatten. Schnell sprangen wir auf die Räder und sputeten uns noch vor Sonnenuntergang zuhause zu sein. Wir waren uns alle klar, dass uns eine mega Standpauke zuhause erwarten würde- wir hatten uns davon gestohlen und keine Nachricht hinterlassen. Wie ihr euch vorstellen könnt, fiel die Strafpredigt sehr heftig aus. Ich hatte zwar keinen Hausarrest, aber einfach die Bonanza-Zeit zu streichen, das war hart. Aber es war erst der Anfang eines wundervollen Sommers in unserer Siedlung. Wir hatten unser erstes Abenteuer bestanden und wir hatten ein Geheimnis, das Geheimnis vom alten Schwimmbad in Schönenberg.
So bildhaft beschrieben, spannend zu lesen, das macht Lust auf Fortsetzungen 🙂
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Ich habe Bilder vom Schwimmbad Schönenberg, war diese Woche mit dem Rad unterwegs. Wenn du die Bilder haben möchtest sag Bescheid
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Hallo Michael! Vielen Dank für dein nettes Angebot! Das wäre großartig! Schick sie mir doch einfach per Email an nadine@diesiedlung.com 🙂 Liebe Grüße, Nadine
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